Hinzukommt, daß die antiken Partituren für Instrumente geschrieben wurden, welche sich sehr von den heute von Musikern benutzten unterscheiden, einige vor einem Jahrhundert noch weit verbreitete Instrumente sind heute kaum noch zu finden.
Allerdings gibt es eine bemerkenswerte Ausnahme: Nan-kuan (南管) Musik ist das einzig überlieferte Relikt aus Chinas ruhmreichem musikalischen Erbe. Abgesehen davon existiert wenig Ähnlichkeit zwischen der kontemporär aufgeführten klassischen Musik im Vergleich zu den Klassikern der Zeit, als beispielsweise Mozart in Europa komponierte und seine Werke aufführte.
Der Mangel an historischen Aufzeichnungen macht es unmöglich, definitiv zu sagen, wie weit Nan-kuan Musik tatsächlich in die chinesische Geschichte zurückgeht. Gelehrte haben anhand der Balladeninhalte, des Kompositionsstils und der Instrumentation versucht, die Musik zu datieren. Einige Wissenschaftler ordneten Nan-kuan der Musik der Han Dynastie (206 v. Chr.-220 n. Chr.) zu, doch tatsächlich ist über die musikalischen Formen der Han-Zeit nur wenig bekannt.
Die meisten Gelehrten setzen den Zeitpunkt des Aufkeimen der Nan-kuan Musik etliche Jahrhunderte später, zwischen der T'ang (618-907) und der Sung (1112-1279) Dynastie, an. Die in den letzten Jahren extensiv betriebenen Forschungen über t'angzeitliche Musik bestätigen ebenfalls diese Theorie, da es zwischen den musikalischen Formen der T'ang Zeit und Nan-kuan auffallende Ähnlichkeiten gibt.
Lü Ch'ui-k'uan (呂錘寬), eine von Taiwans Autoritäten auf dem Gebiet der Nan-kuan Musik, wies die Entwicklung von Nan-kuan in drei großen Abschnitten nach: Zwischen der T'ang und Sung Dynastie die Periode der Formation; zwischen der Yüan (1279-1368) und Ming (1368-1644) Dynastie die Periode der Reifung; und seit der Ch'ing Dynastie (1644-1911) bis in die Gegenwart die Zeit der weiterführenden Entwicklung.
Vor etlichen Jahren enthüllte Professor Piet van der Loon, der Universität Oxford, eine aus Fukien stammende, in die späte Ming Zeit datierte Sammlung von Nan-kuan Balladen. Aufgrund der Ähnlichkeit zu den heute noch gesungenen Balladen läßt sich, ungeachtet der genauen Herkunft, feststellen, daß Nan-kuan tatsächlich eine etliche Jahrhunderte alte, unveränderte und ununterbrochene Tradition darsteilt.
Die abgegriffene Patina dieser antiken Pipa zeugt von Generationen des Nan-kuan-Spiels und liebevoller Pflege.
Als sich Chinas politisches und kulturelles Zentrum während der Südlichen Sung Dynastie (1127-1279) von Norden nach Süden verlagerte, nahm Nan-kuan, - wie viele andere kulturelle Traditionen ursprünglich in Zentralchina beheimatet -, Zuflucht in der südlichen Provinz Fukien. In dieser isolierten Bergprovinz konnte Nan-kuan, von den gewaltigen politischen und kulturellen Veränderungen des restlichen Chinas relativ unbeeinflußt, seine Entwicklung fortsetzen. Dies gilt in gleicher Weise für den heute, sowohl in der Provinz Fukien als auch auf Taiwan gesprochenen Minnan Dialekt, der, anders als die meisten chinesischen Dialekte, mit der alten chinesischen Umgangssprache die größte Ähnlichkeit aufweist.
Der östliche Hafen Ch'üanchou (泉州) war das Zentrum der Nan-kuan Musik in Fukien. Infolgedessen war der musikalische Stil ursprünglich unter der Bezeichnung Ch'üanchou Hsien Kuan (全周絃管) oder "Ch'üanchou Saiten- und Blasmusik" bekannt. Es gibt eine Reihe von Namen für diese Musikform wie beispielsweise Nan-ch'ü (南曲), "südliche Balladenmusik" oder einfach Nanyüeh (南樂), "südliche Musik." Der geläufige Name Nan-kuan, was wörtlich übersetzt "südliche Holzblasmusik" heißt, wurde angenommen, als sich die Musik von Fukien nach Taiwan verlagerte.
Ein Nan-kuan Ensemble besteht aus mindestens fünf, kann aber bis zu zwölf Spieler umfassen. Die vier wichtigsten Instrumente sind: die Pipa (琵琶), ein lautenähnliches Zupfinstrument; die San hsien (三絃), eine dreisaitige Laute; die Erh hsien (二絃), eine zweisaitige Fiedel, die vertikal gehalten und mit einem Bogen wie eine Violine gespielt wird; und die Tung hsiao (洞簫), eine tiefe, voll-klingende Blockflöte, in Japan Shakahatchi genannt. Diese vier Instrumente begleiten den Sänger, welcher mit der P'ai pan (拍板), einer hölzernen Klapper, die aus fünf oben zusammengebundenen Holzstückchen besteht, den Takt hält. Wenn nötig können weitere Instrumente wie die chinesische Oboe, große und kleine Zimbeln, Glocken, horizontal gehaltene Flöten und Klappern - "hölzerne Fische", hinzugefügt werden.
Der Klang, das Aussehen und die Spielweise von Pipa, Blockflöte und zweisaitiger Fiedel in heutigen Nan-kuan Konzerten, ähneln stark denen der T'ang Dynastie. Während der T'ang Zeit wurde die Pipa horizontal vor dem Körper gehalten und die Saiten mit einem hölzernen Schlegel angerissen. In anderen klassischen chinesischen Orchestern der Gegenwart, in denen die Pipa gewöhnlich auch Verwendung findet, wird sie in aufrechter Position gehalten und entweder angeschlagen oder mit den offenen Fingern der linken Hand gezupft. Innerhalb eines Nan-kuan Ensembles jedoch spielt man sie in der ursprünglichen horizontalen Ausrichtung. Obgleich der hölzerne Schlegel heute nicht mehr in Gebrauch ist, werden die fünf Finger der linken Hand, ähnlich einem Entenschnabel, fest zusammengehalten und die Saiten somit auf eine Art und Weise gezupft, wie es mit Hilfe des hölzernen Schlegels während der T'ang Dynastie üblich war.
Nan-kuan Musik setzt sich zum größten Teil aus in freien Versen geschriebenen Liebesballaden zusammen, deren Inhalte meist aus traditionellen chinesischen Geschichten stammen. Die Yüan Dynastie war das "Goldene Zeitalter" für Balladen als musikalisches Ausdrucksmittel und gleichzeitig auch eine Epoche, in der das gängige Nan-kuan Repertoire durch inspirierende Zusätze bereichert wurde. Opernauszüge wurden als weitere schöpferische Quelle genutzt, und im Anschluß an die Ming Dynastie wurden viele traditionelle Opernmanuskripte in die Ch'üanchou Mundart übertragen. Auch heute noch bedient sich Nan-kuan des Ch'üanchou Dialekts, welches eine schwer mit Akzent versehene lokale Ausprägung des Dialekts von Süd-Fukien ist. Die Mundart ist selbst für Bewohner anderer Landesteile Fukiens schwer zu verstehen, ganz abgesehen für Einwohner anderer Provinzen.
Die zweiseitige Fiedel ist eines der wichtigsten Instrumente innerhalb des Nan-kuan Ensembles.
Das Sprachproblem stand der Ausbreitung von Nan-kuan im Weg, neben Taiwan und Amoy haben nur wenige andere asiatische Hokkien Gemeinschaften wie beispielsweise jene auf den Philippinen oder in Malaysia diese Musikform übernommen. Das Sprachproblem außer Acht gelassen, sind die musikalischen Wendungen von Nan-kuan äußerst komplex und schwer zu meistern. Innerhalb eines Nan-kuan Ensembles singen sowohl Männer als auch Frauen, aber zu jeder Zeit immer nur eine Person. Die Töne müssen klar, oft mit halb geschlossenem oder sogar geschlossenem Mund vorgetragen werden. Obgleich für den uneingeweihten Zuhörer Gefühlsmodulationen nicht wahrnehmbar sind, gibt jede Ballade die ihrem Inhalt entsprechende "Stimmung" wieder.
Der Sänger ist gleichzeitig der Leiter des Ensembles, wobei er mit der Klapper den Takt hält. Man differenziert zwischen sechs unterschiedlichen Taktbezeichnungen, welche von einem langsamen 16/4 zu einem schnellen 1/4 Takt reichen, wobei Taktänderungen innerhalb einer Ballade gebräuchlich sind. Ein häufig verwandtes musikalisches Stilmittel, sowohl während der T'ang als auch der Sung Dynastie, war die Kombination eines Stückes mittels etlicher Themen. Strenge Vorschriften lenken das gesamte Konzert in feste Bahnen; langsamen Balladen müssen schnellere folgen, und selbst wenn Sänger oder Musiker wechseln, darf zwischen den einzelnen Balladen keine musikalische Pause hörbar sein.
Die Organisation einer Nan-kuan Musikakademie ist alles andere als locker. Studium und Aufführung von Nan-kuan Musik war ehemals eine Angelegenheit der örtlichen Bourgeoisie, wobei nicht nur die soziale Stellung, sondern auch eine moralische Gesinnung für den Zutritt zu einem Konservatorium maßgebend waren. In der Vergangenheit hatten Nan-kuan Musiker Amateurstatus inne und waren gleichzeitig als Kaufleute oder Händler oft Gilden oder Vereinigungen angeschlossen. Traditionell wird jährlich zehn Studenten der Eintritt in ein Konservatorium gestattet, von den fünf an Instrumenten und fünf gesanglich ausgebildet werden. Die Mitglieder des Konservatoriums sind bekannt als Lang Chün Tzu Ti (郎君子弟)oder "Jünger des Lang Chün." Lang Chün ist ein anderer Name für Meng Ch'ang (孟昶), der Schutzheilige der Nan-kuan Musik. Er war der zweite Herrscher der kurzlebigen Späteren Chou Dynastie (934-965), zu Ende der chaotischen Zeit der Fünf Dynastien (907-970), welche der T'ang Dynastie folgten. Er war ferner ein ausgezeichneter Essayist und Balladenschreiber, wofür man ihn zweifellos heute mit Nankuan in Verbindung bringt.
Der zentrale Innenhof des Ssu Tien Wu Tempels gibt den geeigneten Rahmen, um Nan-kuan Musik aufzuführen.
Zweimal jährlich, im Frühjahr und im Herbst wird Meng Ch'ang von sämtlichen Konservatorien gehuldigt. Die Vorbereitungen für diese Feierlichkeiten beanspruchen einen Monat. Einladungen werden an Musiker anderer Konservatorien verschickt, sodaß diese gemeinsam mit Gleichgesinnten an den Festlichkeiten teilnehmen können. Am Tag der Veranstaltung liegt der eigentliche Schwerpunkt auf einem dreistündigen Nachmittagsgottesdienst. Die komplexe Zeremonie verlangt 36 verschiedene Opfergaben, wie beispielsweise Blumen, süße Reisklöße, Früchte und besonders zubereitete Kuchen. Im Anschluß an den Gottesdienst findet - typisch chinesisch - ein Bankett statt und höchst wahrscheinlich auch ein die ganze Nacht währendes Nan-kuan Konzert, welches dem Zuhörer versichert, daß ein seltenes klassisches Relikt ein weiteres Jahr überlebt hat.
(Deutsch von Gesine Arnemann)